Rezension Traum und Zeit

Sylvia Weigelt

Cosel-Psychogramm

Elisabeth Dommer

Traum & Zeit

Der andere Gräfin-Cosel-Roman

(…)

 

„Wo bin ich? Nicht daheim, aber wo?“ so fragt sich die Ich-Erzählerin am Anfang des Erstlingsromans von Elisabeth Dommer. Nach einer endlos scheinenden Folge von Fragen, Situations- und Befindlichkeitsbeschreibungen, die den Leser auf den ersten zehn Seiten (…) in die Verwirrtheit der Protagonistin mitnehmen, kommt Constance Damerow, so ihr Name, in „Traum und Zeit“ an. Edgar Balenbrink, ihr Lebensgefährte, hat sie als Versuchsperson für ein waghalsiges Experiment missbraucht: Er hat ihren „Montagepunkt“ – wir erfahren, „das ist ein Punkt im Energiefeld des Menschen“ an dem „alle Eindrücke der Außenwelt … montiert werden“ – manipuliert. Denn wird dieser Punkt verschoben – was bei Constance durch die Verabreichung eines undefinierten Mittels geschieht – „nimmt man anderes als real wahr“. Das Andere aber ist eine andere Zeit, eine andere Person, Constance findet sich auf der Burg Stolpen als Constance, Frau von Raven, als Hofdame der legendären Gräfin Cosel wieder.

Anfangs vermischen sich „Traum und Zeit“ immer wieder. Die Constance der (Jetzt)Zeit versucht mit ihrem Wissen, das Geschehen im „Traum“ der Vergangenheit zu beeinflussen, das Schicksal der Gräfin zu wenden. Doch vergeblich. Sie kann deren Schicksal ebenso wenig beeinflussen wie ihre eigene Situation, in die sie sich zunehmend einfindet, ja sich mit ihr soweit arrangiert und tatsächlich zu ihrer realen Welt werden lässt, dass sie am Ende kaum mehr in ihr altes Leben zurück will.

Ist man der Erzählerin erst einmal bis zur Annahme ihrer neuen Identität gefolgt, wird es spannend. Denn das Zusammenleben mit der streng bewachten Gräfin entwickelt sich als wahres Psychogramm der weiblichen Seele. Da ist einmal die natürliche Rivalität zwischen den beiden Frauen, wenn es um die Gunst des Wachpersonals, auch in durchaus erotischer Hinsicht geht. Zum anderen aber ist da die Liebe Constances zu Christian von Holm, den die Gräfin als Kurier in geheimer Mission zur Besserung ihrer Lage benutzt. Als er enttarnt, verhaftet und zum Tode verurteilt wird, droht die Beziehung zwischen den beiden Frauen zu eskalieren. Doch was man kaum für möglich hielt, ist eingetreten: aus Constances anfänglicher Abneigung ist Verständnis, ein tief empfundenes Mitfühlen mit der Gräfin geworden, wie es bereits bei der 16-jährigen Constance in der „Zeit“ ihres touristischen Besuchs der Burg Stolpen anklingt. Die Cosel ist inzwischen nicht nur ein Teil ihres neuen Lebens, sie selbst ist zugleich auch ein Teil von ihr geworden, wie schon über die Namensgleichheit nahe gelegt wird. Und wie die Gräfin durch ihren Geliebten August den Starken in die Verbannung geschickt wurde, manipulierte Edgar seine Lebensgefährtin Constance Damerow so, dass sie in Zeit und Raum der Cosel gefangen gehalten wird.

Erst als August – parallel dazu auch Edgar – stirbt, eröffnen sich den Frauen neue Perspektiven. Die eine könnte Stolpen verlassen, die andere in ihr altes Leben zurückkehren. Doch weder will die Gräfin die Burg, noch Constance die Gräfin verlassen, die ihr über die 49 Jahre ihres Zusammenlebens eine wahre Freundin geworden ist.

Wie dieses Verwirrspiel um fremde und eigene Identität ausgeht, sei hier nicht verraten. Vielleicht nur soviel: Elisabeth Dommers Experiment, eine „andere Geschichte der Gräfin Cosel“ zu erzählen, ist am Ende – trotz einiger Anlaufschwierigkeiten – geglückt.

Man sollte sich zwar davor hüten, die hier erzählte Geschichte der Cosel als historische Wahrheit anzunehmen, doch die Welt der Gräfin Cosel – insbesondere die Jahre auf Burg Stolpen – kommt uns in der Perspektive der fiktiven Gefährtin Constance deutlich näher.

 

Rezension in:  PALMBAUM Literarisches Journal aus Thüringen, Heft 1/2013