Rezension

Alexa Dreesmann

Aus der Zeit gefallen – Tristan Rövers verwirrendes Leben

Elisabeth Dommer
Sonnenwindhaus
Shaker Media 2016
235 S., Euro 14,90

Schon das Cover in warmen Gelb-, Orange- und Grüntönen zieht den Betrachter wie ein magisches Auge in das Buch hinein, genauso wie die gleich auf der ersten Buchseite getroffene Feststellung „Sie kam zu spät.“ Natürlich will der Leser sofort wissen, warum – und schon ist er gefangen von der Geschichte der Annelie Barnstorf. Diese Spannung hält die Autorin bis zum Schluss.

Deshalb fällt es auch schwer, das Buch zur Seite zu legen, aber das „Sonnenwindhaus“ ist keine Lektüre für „mal eben zwischendurch“ oder für öffentliche Verkehrsmittel, Wartezimmer und laute Plätze. Es erfordert die ungeteilte Aufmerksamkeit – es sei denn, man besitzt die Fähigkeit, sein Umfeld weitgehend auszublenden.

Elisabeth Dommer spielt gedanklich mit Raum und Zeit, wobei sie die Übergänge zwischen den Zeitebenen so versiert beschreibt, dass man einen Wechsel manchmal nicht sofort bemerkt. Dies veranlasst auch zum Zurückblättern, um herauszufinden, was gerade vor sich geht: Täuschung oder Zeitsprung, Traum oder Realität, dieselbe Figur in einer anderen Zeit oder war das jemand ganz anderes?

Manches lässt die Autorin bewusst zweideutig und bietet verschiedene Lesarten ihrer Erzählung an. Gerade das macht den Reiz des Buches zu einem großen Teil aus – ebenso wie die ausdrucksstarke bildhafte Beschreibung von Situationen und die genaue, sprachlich fein differenzierte Ausleuchtung der Psyche der handelnden Figuren.

Was passiert? Annelie wächst bei Onkel und Tante in der kleinen Stadt Borkow auf. Gleich zu Beginn gibt es eine Situation, in der sich das Mädchen sehr allein und verlassen fühlt – so berührend geschildert, dass es Erinnerungen an die eigene Kindheit zu wecken vermag.

Diese Stelle ist  beispielhaft für den gesamten Roman. Durchweg fordern Situationsschilderungen mit treffenden, fein nuancierten Worten die eigene Phantasie heraus und lassen scharfe und stimmungsvolle Bilder im Kopf entstehen.

Der einzige, der Annelie versteht, ist ihr Klavierlehrer Tristan Röver, ein Mann, der dem Alter nach ihr Vater sein könnte. Während der Klavierstunden ist sie glücklich und fühlt sich sicher, ihr Lehrer wird ihr Vertrauter und Freund, sein Haus mit Garten und See ihr Zufluchts- und Sehnsuchtsort, die Stunden dort das Einzige, worauf sie sich freuen kann.

So trifft es sie mit 14 Jahren besonders hart, dass Tristan Röver eines Tages spurlos verschwunden ist, ohne dass irgendjemand den Grund dafür kennt. Nach einigem Gerede gerät er in Vergessenheit und das Grundstück verwildert. Nur Annelie kann ihn nicht vergessen, selbst nicht nach ihrem Musikstudium an der Seite ihres Mannes Stephan mit ihrer gemeinsamen Tochter Cornelia.

Doch dann wohnt auf einmal in Tristan Rövers Haus ein Mann gleichen Namens, der genauso aussieht, wie sich Annelie ihren Lehrer als jungen Mann vorgestellt hatte. Und er meint, in den Dreißigerjahren und nicht im Hier und Jetzt von 1970 zu leben.

Warum das so ist, woher er so plötzlich gekommen ist und wer er ist, sind die brennenden Fragen, die nun Annelies Leben bestimmen. Und die natürlich auch der Leser beantwortet haben will.

Die Einführung dieses “anderen“ Tristan Röver ermöglicht dem Leser eine originelle Sicht auf die beiden Zeiträume: Er schaut gewissermaßen als Außenstehender auf das plötzlich emotional herangerückte Spielfeld der Weltgeschichte.

Über allem schwebt dabei eine ganz besondere mystisch-faszinierende Atmosphäre. Schon das Wortspiel mit „Sommer- und Sonnenwind“ weckt Assoziationen zu Naturerscheinungen, die wissenschaftlich noch nicht vollständig erklärbar sind – wie beispielsweise Magnetstürme, Sonnenwinde, Wurmlöcher und Zeitschleifen als Objekte gegenwärtiger physikalischer Forschungen.

Gefallen wird das Buch gewiss all jenen, die für solche Gedankenspiele mit Raum-Zeit-Phänomenen offen sind und sich auch der Möglichkeit nicht verschließen, dass die Vergangenheit in unserem Wesen verwurzelt sein kann, obwohl wir sie nicht selbst erlebt haben.

Aber auch denjenigen, die sich gern von ihrer Phantasie in eine ungewöhnliche Liebesgeschichte entführen lassen, sei empfohlen: Testen Sie einfach die Sogwirkung der Titel-Illustration! Die stammt übrigens von der Autorin selbst.

 

PALMBAUM Literarisches Journal für Thüringen, Heft 1 / 2017

quartus-Verlag, Bucha bei Jena